2.6.73

Juni 1973: Das Ende der ersten sächsischen Schmalspurbahn Wilkau-Haßlau - Kirchberg
 
Am 2. Juni 2016 ist es 43 Jahre her, das der Betrieb auf Sachsens erster Schmalspurbahn Wilkau-Haßlau – Kirchberg (bis 1967 nach Carlsfeld) eingestellt wurde. Es existieren hunderte Fotos von jenem Tag, mehrere Filmszenen und viele Zeitungsberichte – mehr oder weniger aus der Sicht des Besuchers bzw. des Fahrgastes. Doch wie verlief dieser Tag aus der Sicht der Eisenbahner? Dieser Frage widmet sich der folgende Bericht.
 
 
Das letzte Buchfahrplanheft. Abweichend von früheren Regelungen waren die Buchfahrpläne nicht mehr jedem Zugführer persönlich zugeteilt, sondern nur noch 1 Exemplar für alle Zugführer im Packwagen vorhanden. Sammlung Dieter Schatte
 
Der 2. Juni 1973, ein Samstag, war im Betriebsablauf der Deutschen Reichsbahn ein besonderer Tag, denn am 3. Juni 1973 fand der Fahrplanwechsel von Winter- auf Sommerfahrplan statt.
Schon Wochen vorher wurde der Dienstablauf des Wilkauer Zugbegleitpersonals (kurz: Zub) für jenes besondere Wochenende geplant. Dies bedeutete für Dieter Schatte, Zugführer beim Bahnhof Wilkau-Haßlau und zuständig für Dienstplangestaltung und Dienstreglung, einen enormen Arbeitsaufwand und manches Kopfzerbrechen. Zum einen herrschte erheblicher Personalmangel bei der DR und zum anderen waren die Kollegen auch auf den umliegenden Regelspurstrecken im Einsatz.
Am 29. Mai 1973 wurde der Bf Kirchberg als Zub-Einsatzstelle aufgelöst. In diesem Zusammenhang wurde am gleichen Tag ein Sonderzug eingelegt, welcher das gesamte Inventar des Zugbegleitpersonals (z.B. Spinte und Schränke) nach Wilkau-Haßlau beförderte. Den Sonderzug 86370 führte 99 1594-3. Er bestand aus Packwagen und 2 offenen Güterwagen.
 
 
Der Sonderzugfahrplan vom 29. Mai 1973. Sammlung Dieter Schatte
 
Herrn Schatte lag es besonders am Herzen, das alle ehemaligen Kirchberger Zugbegleiter am letzten Betriebstag auch noch einmal auf ihrer Stammstrecke fahren konnten. So kam es, das die letzten planmäßigen Züge P 2119 und P 2128 zusätzlich zum regulären Zugbegleitpersonal mit 16 (!) weiteren Eisenbahnern besetzt waren. Dies war selbstverständlich mit dem Bezirksfahrmeister im Reichsbahnamt Zwickau, Friedhelm Holzmüller, abgesprochen und genehmigt. Als offizielle Begründung gab Herr Schatte die Notwendigkeit an, die Sicherheit der Fahrgäste an diesem außergewöhnlichen Tag zu gewährleisten. Auf jeder Plattform sollte ein Zugbegleiter für Sicherheit sorgen.

Um 3.30 Uhr begann für Aufsicht Heinz Martin am 2. Juni der letzte Dienst auf dem Bahnhof Kirchberg. Damit es nicht vergessen wurde, schrieb er auf die obligatorische Merktafel im Dienstraum in großen Lettern das Wort „Streckenschließung“.

Die Kirchberger Merktafel wurde gerettet und existiert noch heute. Foto: Dieter Schatte

Das Personal des Bahnhofes Wilkau-Haßlau bestand ab 6.00 Uhr aus Zug- bzw. Fahrdienstleiter Johannes Richter und Rangierleiter Erhard Kleinert.

Der erste Zug am letzten Betriebstag fuhr bereits um 4.21 Uhr von Kirchberg nach Wilkau-Haßlau. Zugbegleiter waren Winfried Scheibe als Zugführer und Alfred Müller als Schaffner. Am Regler der Lok 99 1561-2 stand Paul Ludwig, links neben ihm  Helmut Martin als Heizer.
 
Die Früh- und Vormittagszüge im Einzelnen:
P 2105 Kbg ab 4.21 Uhr, Wil an 4.46 Uhr; Zub: Winfried Scheibe Zf, Alfred Müller Zs
P 2110 Wil ab 4.56 Uhr, Kbg an 5.22 Uhr; Zub wie vor
P 2103 Kbg ab 5.28 Uhr, Wil an 5.53 Uhr; Zub wie vor
P 2112 Wil ab 6.58 Uhr, Kbg an 7.24 Uhr; Zub wie vor;
Lzz 70080 Kbg ab 7.28 Uhr, Wil an 7.51 Uhr; ohne Zub
Lzv 70080 Wil ab 8.32 Uhr, Kbg an 8.55 Uhr; ohne Zub.
Bereitschaft in Kirchberg hatten die Zugführer (Zf) Dieter Schatte und Helmuth Kaszuba, ab 7.45 Uhr auch Zugschaffner (Zs) Alfred Müller.
Dieter Schatte führte zur Entlastung des Zub außerdem sämtliche Rangierarbeiten aus.
Um 9.30 Uhr übergab Aufsicht Heinz Martin den Dienst an Ernst Klotz.
Im Dienstübergabebuch war vermerkt, das die Basa- und die Zugmeldeleitung gestört, der Postruf aber in Ordnung war. Das Wetter: Bewölkt, 18°C.
 
 
 
Die letzte Seite des Kirchberger Dienstübergabebuches vom 2.6.1973. Sammlung Dieter Schatte
 
Die Nachmittagszüge:
P 69981 Kbg ab 13.30 Uhr, Wil an 13.58 Uhr; Zub: Kurt Werner Zf, Karl Köster Zs + 13 zusätzlich
P 2122 Wil ab 14.54 Uhr, Kbg an 15.23 Uhr (4 min Verspätung); Zub wie vor + 14 zusätzlich
P 2119 Kbg ab 15.34 Uhr (5 min Verspätung), Wil an 15.59 Uhr; Zub wie vor + 16 zusätzlich
P 2128 Wil ab 16.08 Uhr (5 min Verspätung), Kbg an 16.40 Uhr; Zub wie vor + 16 zusätzlich.
 
Die Zugbegleiter Kurt Werner und Karl Köster waren die beiden ältesten Kollegen ihres Standes.
Außerdem befand sich Zugführer i. R. Ernst Brüderlein unter den Fahrgästen.
Der P 2128 war der letzte reguläre Personenzug gewesen. Aufgrund des hohen Besucherandranges wurden kurzfristig die Sonderzüge 03363, 03367 und 23364 eingelegt:
P 03363 Kbg ab 16.50 Uhr, Wil an ca. 17.30 Uhr; Zub wie vor + 15 zusätzlich;
P 03367 Wil ab 17.37 Uhr, Kbg an 17.55 Uhr; Zub wie vor + 15 zusätzlich; Lp 23364 Kbg ab 18.05 Uhr, Wil an 18.33 Uhr; Zub: Fritz Katzer Zf (Zugrevisor beim Reichsbahnamt Zwickau). Ein Schaffner fuhr nicht mit.
 
 
 
Letzte Einträge im Zugmeldebuch. Seit 27. Mai 1972 war Kirchberg kein Zugleitbahnhof mehr und somit nur noch mit einer Aufsicht besetzt, welche die Zuglaufmeldungen an den Zugleiter in Wilkau-Haßlau abgab. Sammlung Dieter Schatte
 
Für die „kulturelle Umrahmung“ dieses Tages sorgte der „Kirchberger Freischwimmer-Verein“, welcher in Wilkau-Haßlau und Kirchberg mit seinen Ständchen für allgemeine Heiterkeit sorgte.
Außerdem begleiteten die Eisenbahnfreunde Achim Meinel und Bernd Leuoth einige Züge in historischen Uniformen der Königlich Sächs. Staatseisenbahn, welche vom Verkehrsmuseum Dresden ausgeliehen wurden.
 
Das Lokpersonal war wie folgt im Einsatz:
Züge P 2105 bis Lzv 70080: Lokführer Paul Ludwig, Heizer Helmut Martin (Est Kirchberg),
Züge P 69981 und P 2122: Lokführer Helmut Schmitz (Est Kirchberg),
Züge P 2119 bis Lp 23364: Lokführer Paul Leistner, Heizer Siegfried Leistner (Vater und Sohn; Est Schönheide Mitte).
Das Schönheider Lokpersonal übernahm die letzten Züge deshalb, damit das Kirchberger Lokpersonal pünktlich um 18 Uhr an der Abschlussveranstaltung im „Klubhaus“ teilnehmen konnte (siehe weiter unten).
 
 
Bremszettel vom letzten fahrplanmäßigen Zug P 2128. Zugführer war Kurt Werner. Sammlung Dieter Schatte

Zum „Gruppenfoto“ der Eisenbahner vor der Lok 99 1561-2 im Bf Wilkau-Haßlau gibt es eine kleine Geschichte: Dieter Schatte bestand darauf, dass alle diensthabenden Eisenbahner auf das Foto sollten. Doch der Fotograf, Günter Meyer, war in Eile und drängelte. Deshalb fehlen leider 6 Personen auf dem Bild. Zugführer Kurt Werner saß beim Fahrdienstleiter, die restlichen 5 Eisenbahner (Georg Wagner, Johannes Wolf, Werner Fütterer, Karl Köster und Alfred Müller) waren zu einem Kurzimbiss im Gasthaus „Dietel“ unterwegs. Ab 18 Uhr war der Bf Wilkau-Haßlau mit Fahrdienstleiter Helmut Wünsch und Rangierleiter Jürgen Patzig besetzt. Der Dienstvorsteher, Dipl.-Ing. Alfred Teichert, war selbstverständlich auch anwesend.

Mit der Abfahrt des Leerpersonenzuges (Lp) 23364 um 18.05 Uhr in Kirchberg war der offizielle Bahnbetrieb im Rödelbachtal nach 91 Jahren und 8 Monaten beendet. Nach der Ankunft in Wilkau-Haßlau bediente Rangierleiter Jürgen Patzig letztmalig die Segmentdrehscheibe. Die Lok wurde auf dem Kohle-Gleis abgestellt, die Wagen vorher nach Gleis 3 rangiert. Damit war der letzte Betriebstag Geschichte.
 
Nachdem das Betriebsgeschehen beendet war, fand im Jugendklubhaus „Edgar André“ in der Leutersbacher Straße in Kirchberg ab 18 Uhr die „Abschlussveranstaltung zum
Verkehrsträgerwechsel“ statt. Dazu waren alle Eisenbahner des Bf Wilkau-Haßlau, sowie das Personal der Triebfahrzeug-Einsatzstelle Kirchberg eingeladen.
Anwesend waren außerdem Vertreter des Reichsbahnamtes Zwickau und der Reichsbahndirektion Dresden.
 
 
Die Einladung zur Abschlussveranstaltung im Kirchberger Jugendklubhaus. Sammlung Dieter Schatte
 
Ab Montag dem 4. Juni begann das zwei Wochen andauernde Ausräumen des Kirchberger Empfangsgebäudes (EG) sowie der Abbau der Sicherungs- und Fernmeldeanlagen. Das Inventar aus dem EG, wie Schriftstücke, Möbel, Gepäckwaage und der Fahrkartendrucker, wurde mit mehreren LKW nach Wilkau-Haßlau gefahren und dort im Güterschuppen gelagert (leider erfolgte 1992 die restlose Vernichtung des ehem. Kirchberger Inventars). Die restlichen Fahrkartenbestände wurden an die „Verkehrskontrolle I“ der Reichsbahndirektion Dresden abgeliefert. Am ersten „Ausräum-Tag“ hatte Karl Leistner Ortsdienst in Kirchberg. Auch Heinz Martin und Dieter Schatte waren in den zwei Wochen bis zum 15. Juni auf dem Bahnhof im Einsatz.
Zum „Tag des Eisenbahners“, dem 7. Juni (Donnerstag) wurde im Kulturraum des Bf Wilkau-Haßlau eine weitere Feierstunde mit Prämienauszahlung veranstaltet.
 
Noch ein allerletztes Mal kehrte die IV K am Freitag, dem 8. Juni 1973 ins Rödelbachtal zurück.
Der Kirchberger Architekt und Heimatfreund Georg Erzgräber jun. hatte ein Projekt zur Umgestaltung des Lokschuppens in ein Museum erarbeitet. Dazu wurden von der Stadt Kirchberg die Lok 99 1581-0, ein Gepäck- sowie zwei Personenwagen erworben.
An jenem Tag wurde in Wilkau-Haßlau 99 1561-2 vermutlich von den Kollegen Rudolf Fröbel (Lokführer) und Manfred Kunz (Heizer) nochmals angeheizt. Beide Eisenbahner waren inzwischen in der Wagenausbesserung (WAS) beschäftigt. Zugführer Kurt Werner kam zufällig vom Dienst und begleitete die Fuhre. Um 11.15 Uhr fuhr der außergewöhnliche Zug, bestehend aus  99 1561-2, der kalten 99 1581-0 sowie dem Gepäckwagen 974-382 in Wilkau-Haßlau ab.
In Kirchberg angekommen, wurde 99 1581-0 in den Lokschuppen geschoben, während der Gepäckwagen mit Inventar aus dem Empfangsgebäude beladen wurde. Karl Leistner hatte an jenem Tag wiederum Ortsdienst in Kirchberg. Er führte vermutlich auch die Rangierarbeiten durch und fuhr anschließend im Gepäckwagen mit nach Wilkau-Haßlau.
Dort wurde der Gepäckwagen entladen. Anschließend fuhr 99 1561-2 ein wirklich allerletztes Mal nach Kirchberg.
Der Gepäckwagen sowie die beiden Personenwagen wurden zum Lokschuppen rangiert.
Nach Erledigung dieser Aufgaben kehrte 99 1561-2 als Lz nach Wilkau-Haßlau zurück. Gegen 15.30 Uhr wurde sie dort kalt abgestellt. Seitdem hat das Rödelbachtal ab Cunersdorf aufwärts keinen Lokomotivpfiff mehr gehört... .
 
Eine „Dienstfahrt“ der besonderen Art fand in der Woche vom 10. bis 15. Juni statt. Das genaue Datum ist leider nicht mehr nachvollziehbar. Dieter Schatte und Heinz Martin hatten wiederum Ortsdienst in Kirchberg und beförderten um die Mittagszeit unter anderem eine Glasplatte (!) mit dem handgeschobenen zweiachsigen Bm-Kleinwagen (Lkl) nach Wilkau-Haßlau. Zugführer i.R. Ernst Scheibe war in Kirchberg als Hilfskraft mit anwesend und erteilte der Fuhre mit dem Befehlsstab das Abfahrsignal. Unterwegs wurde durch die beiden Eisenbahner mit einem Schraubenschlüssel und einer alten IV K-Glocke (deren Klöppel abgebrochen war) ununterbrochen geläutet. Nach Entladung des unversehrten „Frachtgutes“ in Wilkau-Haßlau mussten Dieter Schatte und Heinz Martin auf Weisung des Streckenmeisters Kramer (Bahnmeisterei Zwickau) den Kleinwagen wieder leer nach Kirchberg schieben... .
 
Bis Anfang Juli 1973 wurden im Bf Wilkau-Haßlau mit 99 1561-2 noch die letzten Schmalspurwagen verladen und die Lok anschließend nach Schönheide Mitte abgezogen.
Mit Inkraftsetzung der „Betrieblichen Anweisung (Betra) Nr. 4123“ am 9. Juli 1973 begann der Streckenrückbau zwischen Wilkau-Haßlau und Kirchberg.
Damit war die erste sächsische Schmalspurbahn Geschichte... .
 
Ein besonderer Dank gilt Herrn Dieter Schatte, Zugführer beim Bahnhof Kirchberg (Sachs). Ohne seine persönlichen Erinnerungen wäre dieser Bericht nicht entstanden.
Auf seiner Homepage dienstplanschatte.de ist ein weiterer Bericht zum 2. Juni 1973 zu finden. Siehe HIER!
 

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